Arten der Schmerzbehandlung
Entspannungsverfahren
Begriffsklärung
Entspannungsverfahren zählen zu den am häufigsten verwendeten psychologisch-psychotherapeutischen Interventionen in der Schmerztherapie. Sie werden sowohl als isolierte Einzelverfahren als auch als Baustein sog. multimodaler Schmerztherapie-Programme eingesetzt. Exemplarisch seien hier erwähnt die Konkordanztherapie zur Behandlung chronischer Kopfschmerzen (Therapiemanual von Gerber et al. 1989) oder das psychologische Schmerzbewältigungsprogramm für Kopf- und Rückenschmerzen (Therapiemanuale von Basler & Kröner-Herwig 1995). Die bekanntesten Entspannungstechniken sind die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson (PME), das Autogene Training (AT), Biofeedbackverfahren, Atemtechniken, Imaginations- undMeditationstechniken und Körperübungen.
Psychophysiologisch wird durch Entspannungstechniken eine hypothalamisch gesteuerte trophotrope Umschaltung hervorgerufen, die einer Stress- bzw. Alarmreaktion des Körpers entgegensteuert. Die Fähigkeit, Entspannung gezielt und willentlich einzusetzen, übt eine mehrfach günstigen Effekt auf die Schmerzlinderung aus: Zum einen kann Schmerz per se als Stressor wirken, der psychophysiologische Begleitreaktionen hervorruft (z.B. Anstieg von Blutdruck und Herzfrequenz sowie Atemfrequenz, Erhöhung der Muskelanspannung), die ihrerseits den Schmerz ungünstig beeinflussen (Muskelanspannung führt zu vermehrtem Schmerz). Mittels Entspannung lässt sich der physiologische Teil dieses Teufelskreises reduzieren. Weiters stellt sich während der Entspannungsübung ein Gefühl von Ruhe und Wohlbefinden ein, das antagonistisch zum Schmerzerleben wirkt. Der in der Entspannung erzielte Bewusstseinszustand wirkt schmerzablenkend ("loslassen können"), insbesondere wenn er mittels Imaginations- und Meditationstechniken eine Lenkung der Aufmerksamkeit auf positive Bewusstseinsbereiche (Erinnerungen, Phantasien) ermöglicht. Durch die gezielte und willentlich herbeigeführte Entspannung erfahren die Patienten wieder ein subjektives Gefühl von Kontrolle über den Schmerz bzw. schmerzverstärkende Situationen, dies beeinflusst auch über kognitive Mechanismen die Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung. Schließlich wird durch Entspannungsübungen die Wahrnehmung körpereigener Vorgänge erleichtert, sodass die Möglichkeit einer "Früherkennung" von dysfunktionalen Körpervorgängen (Fehlhaltungen, erhöhter Sympathikotonus) und damit eine frühzeitige Beeinflussung und langfristige Vorbeugung von Schmerzen zu erzielen ist.
Die Vermittlung von Entspannungstechniken setzt sich meist aus drei Behandlungsphasen zusammen: die psychoedukative Phase (Informationsteil), die übende Phase (Schmerzbewältigung) und die Transferphase (bzw. Praxisphase). In der Psychoedukation geht es vor allem um den Informationsaustausch zwischen Patienten und Therapeuten und die Förderung von Therapiemotivation im Sinne einer aktiven Veränderungserwartung. Die Patienten erhalten ausführliche Informationen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen unter neurobiologischen und psychosozialen Gesichtspunkten. Die Therapeuten erhalten im Gegenzug eine Reihe wichtiger Informationen von den Patienten zur subjektiven Einschätzung der Schmerzursachen (Schmerzattributionen), zu Vorbehandlungen und individuellen Ressourcen. Ziel dieser einleitenden Behandlungsphase ist die schrittweise Erarbeitung eines bio-psycho-sozialen Schmerzmodells, das auch die Verbesserung der Selbstwirksamkeitserwartung ("Ich selbst kann etwas tun") und die Korrektur überzogener Heilungserwartungen an die Medizin ("Die Anderen müssen etwas tun") mit einschließt. Anstelle von Schmerzfreiheit als primäres Therapieziel tritt somit die Förderung von Eigenaktivität und Selbstkompetenz der Patienten im Umgang mit (chronischen) Schmerzen und deren Folgen.
In der Übungsphase werden den Patienten die einzelnen Schritte der jeweiligen Entspannungsmethode erklärt und gemeinsam durchgeführt. Die Patienten erhalten die Instruktion, die Übung mindestens 1x täglich über einen Zeitraum von mind. 15-20 Minuten zu üben. Dabei ist darauf zu achten, dass während der Übungszeiten keine unnötigen Störeinflüsse (Termindruck, Telefonate etc.) vorhanden sind, da es sonst zu einer Koppelung der Übung an unangenehme situative Reize und damit negatives Befinden kommen kann. Es wird empfohlen, die Übung mind. 1x wöchentlich im Beisein des Arztes bzw. Therapeuten zu üben. Zur Verbesserung der Entspannungsfähigkeit werden kognitive Interventionen (Imagination von positiven Bildern oder positive Selbstverbalisation) eingesetzt. Die meisten Patienten erlernen innerhalb weniger Wochen die Fähigkeit, eine Entspannungstechnik gezielt durchzuführen. Die während der Übungsphase im geschützten Umfeld der Therapie erworbenen Fertigkeiten werden nun in der anschließenden Transferphase systematisch zur Beeinflussung von Schmerzen eingesetzt. Dazu ist es notwendig, einzelne Übungsschritte zusammenzufassen und zeitlich zu verkürzen, sodass sie unter Alltagsbedingungen (beim Spazierengehen, in der Arbeit, im Haushalt etc.) erfolgreich einsetzbar sind. In Ergänzung zu den bereits angeführten Verfahren kommen hier häufig Verfahren zum Aufbau von sozialkompetentem Verhalten und zur Verbesserung der Fähigkeit zur Konfliktbearbeitung (z.B. Selbstsicherheitstraining, Problemlösetraining) zur Anwendung.
Eine potentiell sehr ökonomische und gleichzeitig sehr effektive Behandlungsform ist die Durchführung von Entspannungstraining in Gruppenform in ambulanten oder (teil-)stationären Therapiesettings, die üblicherweise als geschlossene oder halboffene Trainingsgruppe mit üblicherweise 6-12 Teilnehmern über einen begrenzten Zeitraum (meist 6-10 Wochen, 1-3x wöchentlich 1 Stunde) durchgeführt werden.
Entspannungstechniken eignen sich für die Behandlung unterschiedlichster akuter und chronischer Schmerzsyndrome (Rehfisch & Basler 1993), wie beispielsweise Kopf- und Gesichtsschmerzen, Migräne, Rückenschmerzen, funktionelle Schmerzsyndrome (Fibromyalgie-Syndrom, Chronisches Erschöpfungssyndrom), Schmerzen im Rahmen von psychischen Störungen (z.B. Somatoforme Störungen, depressive Störungen, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, dissoziative Störungen) oder als adjuvante Therapie bei körperlich begründbaren Schmerzsyndromen (z.B. neuropathischer Schmerz, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, Krebsschmerz). Die Indikationsstellung für eine verhaltenstherapeutische (Mit-)Behandlung erfolgt im Rahmen einer interdisziplinären Schmerzdiagnostik. Bei Patientengruppen, deren Schmerzgeschehen in engem Zusammenhang mit psychischen Störungen gesehen werden - z.B. bei posttraumatischen Veränderungen oder tiefgreifenden Beziehungsstörungen bzw. Störungen der kognitiv-emotionalen Entwicklung - ist neben dem Einsatz von Entspannungstechniken und anderen Schmerzbewältigungsverfahren eine umfassendere psychotherapeutisch-psychosomatische Behandlung indiziert (Bach et al. 2001).
Der Einsatz psychologischer bzw. psychotherapeutischer Interventionsverfahren sollte therapeutisch geschulten Fachkräften vorbehalten sein (Margraf 2000). Der unreflektierte Einsatz von Entspannungstechniken ohne vorhergehende Indikationsstellung im Rahmen einer multidisziplinären schmerztherapeutischen Evaluation birgt zum einen das Problem mangelnder Effektivität und damit zusätzlicher Behandlungsenttäuschung und Demotivation Betroffener. Zum anderen besteht durch eine unsachgemäße Anwendung bei speziellen Patientengruppen das Risiko einer klinischen Verschlechterung (z.B. Reaktualisierung traumatischer Erfahrungen bei posttraumatischen Belastungsstörungen, Verlust der Ichgrenze bei Psychosen).
In zahlreichen Studien ließ sich die Effektivität der wichtigsten Entspannungsverfahren bezüglich Reduktion von Muskelspannung und Sympathikotonus empirisch belegen. Eine systematische Komponentenanalyse liegt für die einzelnen Verfahren bislang nicht vor (Maercker 2000). So zeigte sich, dass di Muskelentspannung für den zerebralen Entspannungszustand nicht essentiell ist, auch ist die Korrelation zwischen subjektiv wahrgenommener Muskelentspannung und EMG-Werten moderat. Die Zeitlatenz zwischen der Durchführung der Entspannungsübung und der tatsächlichen Änderung von EMG-Werten deutet auf den Einfluss kognitiver Faktoren hin. Die Effektstärke von Therapieerfolgen der progressiven Muskelentspannung beträgt in Interventionsstudien durchschnittlich 0.40 (Carlson & Hoyle 1993). Im Vergleich mit anderen psychologischen bzw. psychotherapeutischen Verfahren ist dies ein gutes Ergebnis. Die Effektivität der Entspannungstherapie dürfte umso ausgeprägter sein, je länger eine Entspannungsbehandlung angeleitet und durchgeführt wurde und ob die Patienten Trainingsunterlagen (schriftliche Anleitungen, Übungstonbänder bzw. CDs) zur Verfügung gestellt bekommen.
Bach M, Aigner M, Bankier B (2001). Schmerzen ohne Ursache – Schmerzen ohne Ende. Konzepte – Diagnostik – Therapie. Wien: Facultas-Verlag
Basler HD, Kröner-Herwig B (1995). Psychologische Therapie bei Kopf- und Rückenschmerzen. Ein Schmerzbewältigungsprogramm zur Gruppen- und Einzeltherapie. München. Quintessenz-Verlag
Carlos CR, Hoyle RH (1993). Efficacy of abbreviated progressive muscle relaxation training: A quantitative review of behavioral medicine research. J Consult Clin Psychology 61:1059-1067
Gerber WD, Miltner W, Birbaumer N, Haag G (1989) Konkordanztherapie. Manual. München: Röttger-Verlag
Margraf, J. (Hrsg.). (2000). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag
Maercker A. Entspannunsverfahren. In: Margraf, J. (Hrsg.). (2000). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Band 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag, pp285-292
Rehfisch HP, Basler HD. Entspannung und Imagination. In: Basler HD, Franz C, Kröner-Herwig B, Rehfisch HP, Seemann H (Hrsg.). Psychologische Schmerztherapie. Berlin, Heidelberg, New York, Springer-Verlag, pp 448-468.
Univ.Prof.Prim. Dr. Michael Bach